
DAVID EISENSTADT
Leben und Werk
Dirigent, Pädagoge und Komponist. Er war ein großer Förderer der jüdischen Musik und erlangte Berühmtheit als Leiter des Knaben- und Männerchors in der Großen Synagoge an der TÅ‚omackie-Straße. Einer der bedeutendsten jüdischen Komponisten Warschaus und Vater von Miriam Eisenstadt, bekannt als die "Nachtigall des Ghettos".
David Eisenstadt wurde 1890 in Nasielsk geboren – einer Stadt, die um die Jahrhundertwende dank der drei Jahre zuvor eröffneten Eisenbahnverbindung nach Warschau einen lang ersehnten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwung erlebte. Die jüdische Gemeinde von Nasielsk konnte auf eine jahrhundertealte Tradition und Geschichte stolz sein – bereits 1650 wurde dort die erste hölzerne Synagoge errichtet, während die gemauerte Synagoge 1880 entstand. Dawids Vater war Schochet (ein speziell ernannter Jude, der rituelle Schlachtungen durchführt) und fungierte gelegentlich auch als Kantor.​
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Um dem Alltag zu entfliehen, zog Eisenstadt nach Nowy Dwór, wo er Musiktheorie und Gesang studierte und unter der Anleitung von Eliezer Boruchowicz die kantorialen Traditionen vertiefte. Der Wunsch, seinen musikalischen Weg weiterzuverfolgen, führte ihn nach Berlin, wo er seine Gesangsausbildung fortsetzte. Nach seinem Aufenthalt im Westen begab er sich in den Osten – ab 1909 war er Dirigent des Synagogenchors in Homel, drei Jahre später zog er nach Riga, anschließend bereiste er mit einem Wandertheater Weißrussland und die Ukraine. 1918 ließ er sich in Rostow am Don nieder, wo er als Chorleiter der dortigen Großen Synagoge tätig war. Freundschaften aus dieser Zeit erwiesen sich als lebenslang.​
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1921 ließ sich Eisenstadt dauerhaft in Warschau nieder und führte dort bis zu seinem Lebensende seine künstlerische und pädagogische Tätigkeit fort. Er wurde Leiter des Chors der Großen Synagoge an der TÅ‚omackie-Straße und wohnte mit seiner Familie in deren Hinterhaus. Diese Position brachte Eisenstadt großen Ruhm und Ansehen. Der von ihm geleitete, prächtige jüdische Chor bestand aus etwa 80 Jungen im Alter von 9 bis 13 Jahren, die Sopran und Alt sangen, sowie etwa 20 erwachsenen Männern – Tenöre, Baritone und Bässe. Neben den liturgischen Diensten bereicherten sie zahlreiche Konzerte mit weltlicher Musik und nahmen Aufnahmen für den Polnischen Rundfunk auf. In der Großen Synagoge sang der Chor mit Begleitung eines Harmoniums, obwohl viele Quellen auch den beeindruckenden Klang der Orgel erwähnen. Bei verschiedenen Gelegenheiten soll auch Eisenstadt selbst an diesen Instrumenten gespielt haben. Bis heute ist ein Foto erhalten geblieben, das eine Probe des Chors der Großen Synagoge an der TÅ‚omackie-Straße zeigt.​
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1935 trat der Chor während der Uraufführung der Oper "Dybuk" des Komponisten Lodovico Rocchi auf. Angeblich begab sich der Autor nach seiner Ankunft in der Hauptstadt zu einem Sabbatgottesdienst in die Große Synagoge und, als er die Sänger hörte, schlug er selbst vor, sie in die Aufführung seines neuen Werks einzubinden. Die Vorstellung wurde zu einem großen Ereignis. In den Rezensionen wurden die spektakuläre Inszenierung, beeindruckende Ballettszenen, die Treue zum Stil des Dramas von Szymon An-ski und die sorgfältige Ausführung hervorgehoben, wobei der Chorleiter unter den Schöpfern dieses Erfolgs genannt wurde.​
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Es gibt auch Berichte, wonach während der wichtigsten jüdischen Feiertage im Warschauer Opernhaus Ballette aufgeführt wurden, damit die im Theater beschäftigten Sänger an diesen besonderen Tagen dem Chor von Ajzensztadt beitreten konnten. All dies zeugt von der außergewöhnlichen Anerkennung seiner Arbeit.​
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Als Pädagoge förderte Eisenstadt das musikalische Wissen unter den Juden – er war einer der Gründer der Jüdischen Musikgesellschaft und Mitautor des "Algemajner muzik-leksikon" – Hefte, die als jüdische Musik-Enzyklopädie gedacht waren. Allerdings erschienen nur die ersten drei Ausgaben – die Veröffentlichung weiterer wurde durch den Krieg unterbrochen. 1936 wurde Ajzensztadt Leiter der Kantorenschule des Warschauer Musikinstituts. Laut Leon BÅ‚aszczyk leitete er auch die Chöre der Gesellschaft zur Förderung der Jüdischen Bildung und Kultur "Szul-Kult" sowie der Kultur-Liga und zeitweise auch den Grossner-Chor der zionistischen Organisation Bund. Er komponierte die Musik zu dem Drama "Golem" von Halpern Leiwik – die Premiere dieses Werks, aufgeführt vom Polnischen Theater in Warschau, fand 1928 im Zirkus an der Ordynacka-Straße vor einem riesigen Publikum statt.​
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Eisenstadts bekannteste Aktivität im Bereich der Popularisierung jüdischer Musik waren die jährlichen Konzerte, zu denen die gesamte Warschauer Musikszene, angeführt von Ignacy Jan Paderewski, zusammenkam. Im Laufe der Jahre wurden sie als die größten Errungenschaften der Vokalkunst in Polen gefeiert. Das Haus der Eisenstadts war von europäischer jüdischer Kultur und jüdischer nationaler Wiedergeburt durchdrungen. Dort erklangen sowohl Lieder von Schubert, Mendelssohn und Schumann als auch Werke von Zawel Kwartin und Josele Rosenblatt.
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Nach Beginn der deutschen Besatzung Warschaus soll Eisenstadt die Flucht in die Sowjetunion in Erwägung gezogen haben, blieb jedoch auf Drängen seiner Frau in der Hauptstadt. Im Ghetto wohnten sie in der Ceglana-Straße. Trotz der schwierigen Bedingungen setzte er seine künstlerische Tätigkeit fort. Im Femina-Theater an der Leszno-Straße gründete er ein Symphonieorchester, und während der dortigen Konzerte offenbarte sich das Talent seiner Tochter Miriam Eisenstadt, die als "Nachtigall des Ghettos" in die Geschichte einging. Wie Emmanuel Ringelblum festhielt, verzauberte sie mit ihren Liedern in Polnisch, Hebräisch und Jiddisch ganz Warschau, obwohl ihr Talent erst während des Krieges vollständig entdeckt wurde: "Die junge, schöne, schwarzhaarige Marysia war die populärste Person in ganz Warschau." David Eisenstadt war auch Dirigent des Synagogenchors, als die deutschen Behörden im Mai 1941 die Erlaubnis zur Eröffnung von drei Synagogen im Ghetto erteilten.​
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Obwohl allgemein angenommen wird, dass die Werke von David Eisenstadt nicht bis in unsere Zeit überdauert haben, sind dennoch einige seiner Kompositionen erhalten geblieben, und es werden weiterhin neue entdeckt. Einige davon wurden von Israel Alter, einem Kantor aus Johannesburg, unter dem Titel "L’Dovid Mizmor" gesammelt und veröffentlicht. Diese Werke umfassen: "Hajom haras olom", "L’choh dodi", "Shom’oh vatismah tsiyon", "L’eineinu oshku amoleinu" und "Sh’chuloch achuloh", vorgesehen für die Aufführung durch einen Kantor mit Begleitung eines Tasteninstruments oder durch einen vierstimmigen Chor. Die Kantorenpartien sind äußerst virtuos, die Instrumentalstimmen ebenso umfangreich – sie zeigen die bemerkenswerte Entwicklung der musikalischen Sprache synagogaler Bearbeitungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, während die Chorstimmen stark in der europäischen Tradition verwurzelt sind – überraschend ist unter anderem ein wunderschöner fugierter Abschnitt.​
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Es stellt sich jedoch heraus, dass dies nicht die einzigen Werke von David Eisenstadt sind, die wir heute hören können. 2011 wurde in Kapstadt das Manuskript seiner Kantate "Chad Gadya" (Ein Zicklein) entdeckt, basierend auf dem Text und der Melodie eines Kinderliedes, das während des Sederabends zu Pessach gesungen wird. Ajzensztadt sandte es an Froim Spektor, der 1928 nach Kapstadt auswanderte, um die Position des Oberkantors der New Hebrew Congregation zu übernehmen und die Noten von Eisenstadt mitnahm. Die Kantate besteht aus vier Teilen: der erste ist ein Allegro scherzando, der zweite – basierend auf talmudischen Motiven – ein Andantino, der dritte Teil, Largo, stellt den Kampf des Todesengels mit dem Schochet dar, während der vierte den Sieg der Rechtschaffenheit über das Böse beschreibt.​
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Unter anderen Werken wird die Kantate "Iz awek cum krig der melech" (Und als der König in den Krieg zog) nach dem Gedicht von Maria Konopnicka in der Übersetzung von Abraham Reisen genannt, Chorlieder (auch in jiddischer Sprache) sowie synagogale Werke für den Sabbat oder Feiertage. Bei deren Bearbeitung schöpfte Eisenstadt sowohl aus traditionellen Volksstilen als auch aus allgemein bekannten oratorien- und kantatenartigen Stilen. Darüber hinaus schrieb er sogar Orchesterwerke, wie beispielsweise die "Hebräische Suite". Dieses Repertoire ist in Polen noch weitgehend unbekannt, und aller Wahrscheinlichkeit nach warten weitere Kompositionen des bedeutendsten jüdischen Komponisten Warschaus noch darauf, in Archiven oder privaten Haushalten weltweit entdeckt zu werden.​
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Die letzten Momente der Familie Eisenstadt im August 1942 wurden von Jonas Turkow beschrieben: "Als deutsche Soldaten Miriam auf dem Umschlagplatz von ihren Eltern trennten und David Eisenstadt und seine Frau in einen anderen Güterwagen steckten, lief Miriam zurück zu ihren Eltern. Sie wollte sich in den letzten Stunden ihres Lebens nicht von ihnen trennen. Miriam war bereits an der Wagentür, als sie von einer deutschen Kugel getroffen wurde." Der Transport vom Umschlagplatz ging nach Treblinka, wo David und seine Frau in der Gaskammer ermordet wurden.
Die Große Synagoge an der TÅ‚omackie-Straße
Die Geschichte eines verschwundenen Ortes
Die Große Synagoge an der TÅ‚omackie-Straße war eines der bedeutendsten und eindrucksvollsten Symbole der jüdischen Gemeinde im Vorkrieg-Warschau. Sie wurde vom renommierten Architekten Leandro Marconi entworfen und 1878 feierlich eröffnet. Das Gebäude stand an einem repräsentativen Ort, am damaligen Bankplatz, und beeindruckte durch seine monumentale klassizistische Architektur sowie seine prachtvolle Innengestaltung.


Die Synagoge bot Platz für rund 2.000 Personen und wurde schnell zum religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Zentrum des jüdischen Lebens in Warschau. Sie war nicht nur ein Ort des Gebets, sondern auch der Musik und der Begegnung. In ihrem Inneren erklangen festliche Liturgien, klassische Chorwerke und feierliche Orgelbegleitungen.

Besonders berühmt war der Knaben- und Männerchor unter der Leitung von Dawid Ajzensztadt, dessen Darbietungen regelmäßig ein zahlreiches Publikum – darunter Vertreter der Warschauer Elite – anzogen. Neben den Gottesdiensten fanden in der Synagoge auch öffentliche Konzerte statt, die über die jüdische Gemeinde hinaus Anklang fanden. Die Synagoge war ein lebendiges Zentrum für Spiritualität, Kunst und kulturellen Austausch.

Die Große Synagoge überstand die deutsche Besatzung bis Mai 1943. Am 16. Mai 1943 wurde sie von den Deutschen gesprengt – als symbolischer Schlusspunkt der Zerstörung des Warschauer Ghettos. Ihre Vernichtung hatte auch eine propagandistische Funktion: Sie sollte die vollständige Auslöschung der jüdischen Präsenz in Warschau demonstrieren.
Nach dem Krieg wurde die Synagoge nie wieder aufgebaut. In den 1970er-Jahren wurde an ihrer Stelle das sogenannte „Blaue Hochhaus“ errichtet, das heute dort steht, wo einst das religiöse Herz jüdischen Lebens in Warschau schlug. Als einziges in Polen erhaltenes materielles Zeugnis der Synagoge gilt eine Garderobenmarke, die heute im Museum POLIN aufbewahrt wird. Ein weiteres erhaltenes Objekt – ein Leuchter aus dem Inneren der Synagoge – befindet sich im ANU – Museum des Jüdischen Volkes in Tel Aviv.
Die Große Synagoge an der TÅ‚omackie-Straße ist heute ein verschwundener, doch im kollektiven Gedächtnis präsenter Ort – ein Symbol einer gewaltsam unterbrochenen Welt, deren Echo in Musik, Erinnerungen und dem Versuch, ihr wieder eine Stimme zu geben, weiterlebt.
